Nachrichten aus dem Kreisverband

Gleichgültigkeit durchbrechen, Menschlichkeit wiedererlangen

Heike Hänsel, stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, im Interview der Woche über die Konferenz WELCOME2STAY, eine bunte Zusammenkunft der Bewegungen des Willkommens, der Solidarität, der Migration und des Antirassismus, die vom 10. bis zum 12. Juni in Leipzig stattfindet und zu drei Tagen des Austauschs und der Diskussion zwischen Organisationen, Netzwerken, AktivistInnen und vor allem auch den Geflüchteten selbst lädt

Bei der Konferenz "Welcome2stay" in Leipzig werden Gäste und Aktivisten aus allen Bereichen der Willkommens-, Solidaritäts- und Antirassismusbewegungen erwartet. Wofür steht "Welcome2stay" und was erwarten Sie sich von der Konferenz?

Heike Hänsel: Welcome2stay hat sich aus der Idee heraus entwickelt, Flüchtlings- und Solidaritätsinitiativen in Deutschland und Europa kennen zu lernen, sich zu vernetzen und auch eine politische Stimme zu werden. Ich hoffe, dass bei der Konferenz Strategien im Hinblick auf Solidarität mit den Geflüchteten einerseits, und Strategien zur Bekämpfung von Fluchtursachen andererseits in den Fokus kommen. Die Flucht Hunderttausender aus den Krisen- und Kriegsgebieten vom Mittleren Osten bis Zentralasien hat viele Menschen hier überrascht – obwohl die Gründe ja allen klar waren. Es ging also zunächst um Nothilfe, darum, die oft traumatisierten Menschen zu empfangen, zu begleiten und ihnen beizustehen. In Leipzig können im Rahmen zahlreicher Workshops Erfahrungen vertieft, Positionen geklärt und vielleicht gemeinsame politische Forderungen festgelegt werden. Wichtig finde ich vor allem, dass auch viele Geflüchtete selbst zu Wort kommen.

Wie wichtig ist der Austausch mit den vielen Organisationen, Netzwerken und Aktivisten?

Natürlich ist das ein ganz zentraler Punkt. Wir müssen sehen, dass die Hilfe für Geflüchtete aus ganz verschiedenen Ecken kam. Es waren und sind bestehende Sozialorganisationen ebenso beteiligt wie neue Initiativen, die quasi über Nacht entstanden sind, weil die Menschen hier gesagt haben: „Das ist eine Jahrhundertherausforderung, hier muss ich jetzt helfen." Ich denke, dass es in Leipzig um den Austausch von Erfahrungen zwischen Organisationen, Netzwerken und Aktivisten geht, um diese Solidaritätsbewegung zu stärken.

Das geplante Integrationsgesetz, EU-Grenzschutzmaßnahmen oder der Flüchtlingsdeal mit der Türkei. Wie groß ist die Diskrepanz zwischen der propagierten "Wilkommenskultur" der Bundesregierung und der Realität?

Erstens hat die Bundesregierung der im letzten Sommer zunächst propagierten Willkommenskultur keine konkrete finanzielle und administrative Unterstützung für die Kommunen folgen lassen, was fatal ist. Viele freiwilliger HelferInnen fühlen sich auch ausgenützt, da sie an Stelle des Staates aktiv werden mussten, neue Kapazitäten wurden nicht aufgebaut. Zweitens erleben wir seit Ende des Jahres eine Verschärfung des Aufenthaltsrechts und weitere Verstümmelung des Asylrechts. Dazu kommt eine Außenpolitik der Abschottung und militärischen Bekämpfung von Fluchtrouten und Flüchtlingen. Dies zeigt sich am deutlichsten in dem schmutzigen Erdogan-Deal und der Verwendung von Entwicklungsgeldern für Grenzregime in Afrika.

Wie kann die Konferenz zu gelingender Integration beitragen?

Indem sie konkrete positive Erfahrungen sowie neue Ideen austauscht und bündelt und mit politischen Forderungen verbindet. Dazu gehört meines Erachtens vor allem die Forderung nach einer neuen sozialen Offensive in Deutschland. Es gibt da viele Baustellen: sozialer Wohnungsbau, Sprach- und Bildungsangebote, Arbeits- und Studiumsmöglichkeiten, Kultur und Sport. Wichtig ist uns vor allem, dass bei der ominösen Forderung der „Integration in den Arbeitsmarkt" nicht Flüchtlinge als billige Arbeitskräfte zum Lohndumping missbraucht und gegen Erwerbslose ausgespielt werden. Das ist Wasser auf die Mühlen der neuen und alten Rechten.

Ohne ein breites Engagement aus der Gesellschaft scheint das schwierig. Wie schätzen Sie das gesellschaftliche Klima ein in einer Zeit, in der gleichzeitig rechtspopulistische Parteien in ganz Europa immer mehr Zuspruch finden?

Das Klima im Land ist ja vor allem ein Ergebnis von zweieinhalb Jahrzehnten Sozialabbau und neoliberaler Misswirtschaft. Rund jedes siebte Kind in Deutschland ist abhängig von Hartz IV, die Renten reichen oft nicht zum Leben. Dass die Opfer dieser Politik nun nach Schuldigen suchen und sie in den Flüchtlingen zu finden meinen, ist ein Riesenproblem und eine enorme Aufgabe für DIE LINKE: Wir müssen erklären, dass der Sozialabbau und das Staatsversagen alle trifft; dass die Flüchtlinge ebenso Opfer dieser Politik sind, vor allem der Kriegs- und Rüstungspolitik; dass genug Geld da ist, aber im Reichtum weniger konzentriert liegt. Allein die 500 reichsten Deutschen besitzen zusammen etwa 654 Milliarden Euro – das ist mehr als die jährliche Wirtschaftsleistung von Griechenland, Portugal und Irland zusammengenommen. Das müssen wir hervorheben, täglich, im Parlament und auf der Straße.

Inwieweit bieten sich in der Integrationsaufgabe auch Chancen auf ein sozialeres und gerechteres Deutschland und Europa?

Der Chance steht, glaube ich, eine doppelte Herausforderung bevor. Wir müssen erstens die beschriebenen Zusammenhänge aufzeigen. Und zweitens müssen wir die allgemeine Verrohung und Gleichgültigkeit immer wieder neu durchbrechen, Menschlichkeit und Solidarität wiedererlangen helfen. Die Meldungen werden doch bereits "alltäglich": "Kutter vor Kreta gekentert – 700 Tote" – nächste Seite. "UN befürchtet 700 Tote im Mittelmeer" – nächster Kanal. Man schaut vielleicht noch einmal auf, wenn wieder ein totes Kind in die Kamera gehalten wird. Deswegen meine ich: Die Arbeit mit Flüchtlingen kann nach zweieinhalb Jahrzehnten neoliberaler Verrohung auch wieder ein neues Mit- und Zusammengehörigkeitsgefühl unter allen Menschen schaffen, die in diesem Land und in Europa leben und gleichzeitig den Druck für den Kampf um soziale Rechte erhöhen.

Interview: Miguel Thomé

linksfraktion.de, 8. Juni 2016