Nachrichten aus dem Kreisverband

Es ist nicht genug

Evelyn Ellwart, Linke-Stadträtin
KV TübingenPosition

Am 19. April segelte uns im Kulturausschuss eine heiße Vorlage auf den Tisch: „NS-Erinnerungskultur“. Seit den 80er Jahren beschäftige sich die Stadtverwaltung schon mit der Aufarbeitung der NS-Geschichte. Nun sei das aber genug. Man habe genug gemacht. Die Verwaltung verfeinert ihre Grundhaltung noch und meint, weil Tübingen keine Industriestadt war, hätte hier Zwangsarbeit keine Rolle gespielt und ob der Güterbahnhof wirklich ein Güterbahnhof war und der Beobachtungsstand für Zwangsarbeiter darin wirklich ein Beobachtungsstand für Zwangsarbeiter, das wisse man nicht. Und außerdem habe ja vor allem die Universität was aufzuarbeiten und nicht die Stadt.

Eine feine Argumentationskette, die Verantwortung verschiebt und die ganz am Ende auf eine Sache zielt: nämlich auf den Güterbahnhof. Die Sache ist nämlich die: der Gemeinderat hat sich schon wiederholt dafür entschieden, in den alten Güterbahnhof das Lern–und Dokumentationszentrum zum Nationalsozialismus (kurz LDNS) einzurichten. Eben wegen dem Beobachtungsstand darin. Und den Zwangsarbeitern. Und weil es ein Gebäude ist, in dem ein Herzstück des nationalsozialistischen Verbrechenssystems erlebbar wird: die Eisenbahn. Die Menschen in Mordlager transportierte, Waffen und Soldaten in den Krieg. Ohne Eisenbahn ist NS-Deutschland nicht denkbar. Und Zwangsarbeiter wurden hier vor Ort zu Sklaven des Systems. Es macht also mehr als Sinn, hier das NS-Dokuzentrum des seit 2009 aktiven Tübinger Vereins zu platzieren. Den Ort mit der Informationsweitergabe zu verbinden. Jungen Menschen die Geschichte der Alten nahe zu bringen. Ein Erzählort kann das werden. Mitten in einem lebendigen neuen Quartier. Neben Stadtteiltreff, Kindergarten, Café. Nun kommt im nächsten Planungsausschuss eine Vorlage zum Güterbahnhof. Und komisch: das LDNS kommt nicht mehr darin vor. Das ist das Ziel der Argumentationskette. Güterbahnhof ohne Dokuzentrum.

Hier müssen wir Tübinger_innen uns wehren. Güterbahnhof darf nicht ohne Dokuzentrum denkbar sein. Das Abspalten der Geschichte, insbesondere des bedrückenden, schuldhaften Teils, ist ein Vorgang, den man von Traumatisierten kennt. Man möchte woanders hin und das Schlimme nicht mehr sehen. Das ist für das Überleben die erste wichtige Reaktion. Ein Trauma zu realisieren ist aber auf lange Sicht notwendig, um es nicht zu wiederholen. Dazu muss man es genau anschauen. Viele Menschen sind erst heute, 76 Jahre nach Kriegsende, dazu in der Lage. Oft sogar erst die transgenerational traumatisierten Kinder oder Enkel. Jetzt ist die Zeit. Und nein liebe Stadtverwaltung, es ist nicht genug. Es fängt gerade erst richtig an.