Nachrichten aus dem Kreisverband

Rat nicht entmachten

Evelyn Ellwart
KV TübingenPosition

Vor genau drei Monaten: 17. März 2020. Erste Coronaverordnung, Ansprache von Angela Merkel, Bilder von Särgen aus Bergamo. Es trifft vor allem die über 70-Jährigen tödlich. Wie viele geliebte über 70-Jährige sind in meinem nahen Umfeld! Die Kontaktunterbrechung zur Abflachung der exponentiellen Kurve klingt vernünftig. Sollten da nicht auch die Gemeinderatssitzungen sofort ausgesetzt werden? Oder wäre das faktisch eine Entmachtung des Gemeinderats? Wie kann im Notstand eine kommunale Demokratie funktionieren? Der Gemeinderat tagt seither in einer Mischung aus Video- und Präsenzsitzungen mit maximal 14 physisch anwesenden Personen von insgesamt 40. Er fasst in dieser Weise Beschlüsse. Wir diskutieren über Video und Chat miteinander. Wir positionieren uns. Wir machen Zwischenrufe. Wir hören einander zu. Es sieht auf der Oberfläche so aus, als hätte der Gemeinderat seine volle Funktionalität beibehalten. Aber das ist eine Täuschung.

Spontaneität, Flexibilität, Neues kann so fast nicht stattfinden. Statt Menschen sehen wir Bilder und Texte. Informationen, die unsichtbar zwischen Menschen hin- und hergehen, entfallen. Die Kommunikation innerhalb der Fraktion ist erschwert. Der Austausch mit anderen Fraktionen erst recht. Die Schwelle der Geräte ist für viele ein Hemmnis, sich dem Digitalen anzuvertrauen. Ohne Vertrauen, wie kann da eine Gruppe von Menschen zusammengehen?

Was passiert, wenn wir kleine Roboter mit Stellungnahmen füttern und in die Videokonferenz schicken? Es gibt einen vorhersehbaren Schlagabtausch und vorhersehbare Abstimmungen. Aber es passiert nichts Unerwartetes. Es gibt keinen echten Dialog, keine gemeinsame Meinungsfindung, keine gemeinsame Willensbildung.

Der Landtag hat am 7. Mai ein Gesetz erlassen, das diese Form der Beschlussfassung für den Gemeinderat erlaubt – in Ausnahmefällen! Dieser Ausnahmefall darf niemals zum Normalfall werden. Ein Gemeinderat dauerhaft in Videositzung ist ein entmachteter Gemeinderat. Meine Fraktion hat wiederholt per Mail-Umlauf im Gremium dafür gekämpft, Präsenzsitzungen in größeren Räumen wie der Hepperhalle oder dem KSK-Carré herzustellen. Es wäre technisch möglich, hat die Verwaltung erklärt, aufwendig, aber machbar. Dennoch ist es uns bisher nicht gelungen, eine Mehrheit dafür zu gewinnen. Aus dem Notstand darf kein Aus der gelebten Demokratie werden.